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«Blockchain im Gesundheitswesen nimmt in Basel Fahrt auf»

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«Blockchain im Gesundheitswesen nimmt in Basel Fahrt auf»

Oraganization | 03 Dezember 2018

Marco Cuomo und Daniel Fritz von Novartis haben vor zwei Jahren angefangen, sich mit Blockchain zu beschäftigen. Inzwischen haben sie sich hohe Ziele gesetzt: Zusammen mit anderen Pharmaunternehmen haben sie im Rahmen der europäischen Innovative Medicines Initiative das Programm «Blockchain-Enabled Healthcare» ins Leben gerufen, das 2019 starten soll. Das Programm, das die beiden am Blockchain Leadership Summit in Basel – der grössten Schweizer Konferenz zum Thema – vorgestellt haben, hat sich nichts weniger zum Ziel gesetzt, als verbindlich festzulegen, wie Blockchain künftig im Gesundheitswesen eingesetzt werden soll.

Marco Cuomo and Daniel Fritz from Novartis

BaselArea.swiss: Sie beide arbeiten für den Pharmakonzern Novartis, der weltweit für seine Arzneimittel, aber nicht unbedingt für technologische Lösungen bekannt ist. Wie kamen Sie dazu, sich mit den Möglichkeiten von Blockchain auseinanderzusetzen?

Marco Cuomo: Das Thema Blockchain hat ganz allgemein unser Interesse geweckt, und wir wollten herausfinden, welche Art von Problemen mit dieser Technologie gelöst werden können. Zusammen mit einer Handvoll weiterer Interessenten haben wir uns daher zu einem ersten informellen Gespräch getroffen und danach eine Arbeitsgruppe gebildet, die sich mit den wesentlichen Aspekten von Blockchain auseinandersetzen sollte. Das war vor zwei Jahren.

Was ist dabei herausgekommen?

Marco Cuomo: Als Erstes haben wir eine Reihe von Anwendungsfällen analysiert, um uns mit der Technologie vertraut zu machen. Dabei haben sich manche Querverbindungen zum Thema Lieferkette ergeben, da sich Blockchain zum Beispiel für die exakte Überwachung und Rückverfolgung von Warenwegen (Tracking & Tracing) anbietet. So nahmen wir Dan mit ins Boot, der bei Novartis als Supply Chain Domain Architect arbeitet, und stellten ihm die Aufgabe, eine solche Lieferkette vom Hersteller bis zur Apotheke gleich einmal mit Hilfe von Lego-Robotern nachzubauen …

Daniel Fritz: … wobei wir IoT-Sensoren für Temperatur und Feuchtigkeit sowie eine Prüfung auf Produktfälschung integriert haben. Dabei erfuhren wir einiges über das immense Potenzial der Blockchain-Technologie und ihre zahlreichen Anwendungsmöglichkeiten.

Marco Cuomo: Mit unserem Lego-Modell konnten wir auf effektvolle Weise unsere Ideen kommunizieren, und zwar intern wie extern. Dabei ist uns schnell klar geworden, dass ähnliche Diskussionen auch in anderen Pharmaunternehmen stattfinden müssen. Deshalb haben wir diese schliesslich direkt zum Gespräch eingeladen.

Weshalb haben Sie nicht einfach eine eigene Lösung entwickelt?

Marco Cuomo: Natürlich könnte man schon so etwas wie eine eigene Kryptowährung ins Leben rufen – doch was dann? Um diese austauschen zu können, benötigt man andere, die dieselbe Währung benutzen. Nein, bei Blockchain handelt es sich nicht bloss um eine weitere neue Technologie, die man anwendet, um einen besonderen Nutzen daraus zu ziehen.
Der entscheidende Aspekt von Blockchain ist, dass bei dieser Technologie etwas von Wert zwischen mehreren Parteien ausgetauscht wird. Betrachten wir zum Beispiel die Lieferkette von Pharmaprodukten, an der Hersteller, Vertriebszentrum, Grosshandel, Apotheken, Ärzte und Spitäler beteiligt sind. In solch einem Kontext lässt sich Blockchain sinnvoll anwenden.

Wie das?

Marco Cuomo: Mit Hilfe von Blockchain entfällt zum Beispiel die Notwendigkeit, das eigene Supply-Management-System in irgendeiner Weise anzupassen. Stattdessen lässt sich eine gemeinsame Basis für den Austausch zwischen mehreren Parteien legen. Auf Intermediäre jeglicher Art kann dabei gänzlich verzichtet werden, da Blockchain deren Funktion übernimmt. Wir bezeichnen das Ganze gerne als «Mannschaftssport», da sich alle Beteiligten an dieselben Regeln halten müssen.

Welcher Nutzen ergibt sich hieraus insbesondere für die Life Sciences Industrie?

Daniel Fritz: Wenn wir den Leuten das Thema Blockchain nahebringen wollen, sprechen wir nicht einfach nur über die Basics. Wir befassen uns auch mit Anspruchsvollerem, etwa der Frage, wie eine Anwendung auszusehen hat, die auf dem aktuellen Regulierungsrahmen aufbaut. Dabei wird den Leuten schnell klar, dass sich ganz neue Möglichkeiten der Wertschöpfung bieten, indem man gesetzliche Vorgaben noch übertrifft. Die meisten begreifen schnell, dass die Blockchain-Technologie eine Vielzahl von Vorteilen besitzt, die sie gegenüber bisher eingesetzten Technologien auszeichnet.

Marco Cuomo: Zum Nutzen, den Blockchain bietet, gehören Aspekte wie Kosteneffizienz, Schnelligkeit und erhöhte Sicherheit. So lassen sich elektronische Aufzeichnungen mit Blockchain völlig transparent machen. Sollte zum Beispiel eine Kühlkette irgendwo unterbrochen werden, wird dies für alle daran Beteiligten sofort ersichtlich. Heutzutage muss man dagegen erst die Ankunft eines Produkts am Zielort abwarten, um herausfinden, ob dieses eventuell schadhaft ist und retourniert werden muss. Setzt man Blockchain ein, verlässt ein solches Produkt den Hersteller gar nicht erst.

Daniel Fritz: Bei den Lieferketten in anderen Branchen verhält es sich ähnlich. Immer mehr Menschen setzen zum Beispiel auf Bioprodukte. Wie weiss man aber, ob dort, wo «Bio» draufsteht, auch wirklich «Bio» drin ist? Mit Blockchain lässt sich die Herkunft eines Produkts garantieren, so dass falsch deklarierte Waren ganz oder zumindest teilweise aus der Lieferkette entfernt werden können. Dies kommt der Branche ebenso zugute wie den Abnehmern, in unserem Fall also den Patienten.

Marco Cuomo: Wo wir von Patienten sprechen: Hier besteht das oberste Ziel, gewissermassen der «Heilige Gral», darin, den Patienten die vollständige Kontrolle über die eigenen Daten zu übertragen. Heute sind diese Daten noch auf verschiedene Stellen verteilt, werden etwa in Spitälern oder Arztpraxen aufbewahrt. Mit Blockchain lässt sich dies von Grund auf ändern, so dass am Ende die Patienten alleine entscheiden, wer ihre Daten einsehen darf und wer nicht.

Bietet eine Gesundheitsversorgung auf Basis von Blockchain noch weitere Vorteile?

Marco Cuomo: Unser CEO, Vas Narasimhan, verfolgt die Vision einer Medizin, die allein auf verlässlichen, empirisch erhobenen Daten basiert. Blockchain kann für eine lückenlose Überwachung und Rückverfolgung dieser Daten sorgen, so dass deren einwandfreie Herkunft jederzeit garantiert ist. Eine weitere Möglichkeit besteht in der Einrichtung von speziellen Datenmarktplätzen, auf denen man seine persönlichen Daten Pharmaunternehmen und Forschungseinrichtungen anbieten kann. Blockchain könnte auch hier die Abläufe vereinfachen. Denn der zeitraubende Aufbau einer Vertrauensbasis, die die Voraussetzung für den Austausch solch sensibler und wertvoller Daten bildet, ist beim Einsatz dieser Technologie nicht mehr nötig. Novartis selbst hegt die Hoffnung, mit Hilfe solcher Daten künftig neuartige Arzneimittel entwickeln zu können.
Auch das Thema Third-Party-Risikomanagement spielt in diesem Zusammenhang eine Rolle. Wie können wir bei Novartis sicherstellen, dass sich unsere Lieferanten jederzeit an unsere internen Arbeits- und Sicherheitsbestimmungen halten? Wieso sollten wir dieselbe Überprüfung zehn Mal im Jahr durchführen statt nur ein einziges Mal? Und wieso sollte diese Überprüfung nicht in der Zuständigkeit des Lieferanten selbst liegen – vorausgesetzt, es ist garantiert, dass es dabei zu keinerlei Manipulationen kommt?

Sie haben vor zwei Jahren als kleines Grüppchen begonnen. Wo stehen Sie jetzt?

Marco Cuomo: Wir haben realisiert, dass zuerst bestimmte Standards festgelegt werden müssen, ehe Blockchain im Gesundheitssektor auf breiter Basis eingesetzt werden kann. Deshalb haben wir jüngst bei der europäischen Innovative Medicine Initiative, an der sich Novartis mit über 100 Projekten bereits intensiv beteiligt, das Programm «Blockchain-Enabled Healthcare» eingereicht.
Dabei ist es uns gelungen, acht weitere Pharmaunternehmen für die Teilnahme zu gewinnen: J&J, Bayer, Sanofi, AstraZeneca, UCB, Pfizer, Novo Nordisk und AbbVie sind alle mit von der Partie. Finanziert wird das Programm – das bei drei Jahren Laufzeit 18 Mio. Euro kosten soll – zur einen Hälfte durch die beteiligten Branchenvertreter und zur anderen Hälfte durch die EU. Die Anmeldefrist für das Projekt, bei dem Spitäler, Forschungslabore, Patienten, KMU und Universitäten mit uns zusammenarbeiten sollen, ist im Oktober 2018 abgelaufen. Als Nächstes werden die genauen Abläufe festgelegt, so dass mit der Arbeit gegen Ende 2019 begonnen werden kann.

Worum geht es bei «Blockchain-Enabled Healthcare» im Einzelnen?

Marco Cuomo: Das Hauptziel besteht darin, verbindliche Standards zu definieren, auf deren Basis ein Konsortium eingerichtet werden soll, das auch nach Programmende weiterbesteht. Wie das W3C, das World Wide Web Consortium, das die technischen Standards im Internet festlegt, soll unser Gremium über die Anwendung von Blockchain im Gesundheitswesen wachen. Dabei ist das Internet ein gutes Beispiel: Auch hier musste jemand zuerst für einheitliche Standards sorgen, ehe das Ganze seine rasante Entwicklung nehmen konnte. Dasselbe soll, so unsere Hoffnung, auch im Gesundheitssektor erfolgen.
Man stelle sich vor: Novartis schafft seine eigene Blockchain-Anwendung – und müsste danach Tausende von Lieferanten erst überzeugen, diese ebenfalls zu benutzen. Wenn alle so ihr eigenes Süppchen kochten, wäre so etwas wie ein durchgehendes Tracking von Pharmaprodukten schlicht ein Ding der Unmöglichkeit. Und wieso sollten die Ärzte überhaupt unser System als das gültige akzeptieren? Zudem erhalten die Patienten ihre Medikamente ja meist aus mehreren Quellen, nicht nur von Novartis allein. Deshalb sind hier verbindliche Standards einfach unerlässlich.

Wie einfach war es, die übrigen Firmen zur Teilnahme zu bewegen?

Daniel Fritz: Einige von ihnen sagten bei unserer Anfrage auf der Stelle zu. Andere mussten wir von unserer Vision erst überzeugen. Aus diesem Grund haben wir zahlreiche Gespräche geführt, die allesamt sehr positiv verlaufen sind – denn es ist uns offenbar gelungen, eine Atmosphäre des gegenseitigen Vertrauens aufzubauen. Und um Vertrauen geht es bei Blockchain ja.

War es hilfreich, dass diese Reise in Basel ihren Anfang nahm?

Marco Cuomo: Basel ist der Ausgangspunkt des Projekts, bei Novartis laufen alle Fäden zusammen. Da war es natürlich schon günstig, dass sämtliche Pharmaunternehmen und Forschungseinrichtungen, mit denen wir das Projekt besprechen wollten, ganz in unserer Nähe sind. Ebenfalls von Vorteil war die Tatsache, dass sowohl unser CEO wie unser CDO digitale Initiativen grundsätzlich befürworten und von deren Potenzial überzeugt sind.

Daniel Fritz: Das Thema Blockchain im Gesundheitswesen nimmt in Basel, bei Novartis und auch global zunehmend Fahrt auf. Die Technologie wird sowohl Patienten wie Pharmaunternehmen zugutekommen. Doch bevor es soweit ist, müssen wir zusammen mit unseren öffentlichen Partnern noch jede Menge harte Arbeit leisten.

Zur Person

Marco Cuomo ist als Manager of Applied Technology Innovation und als Senior Digital Solutions Architect für Novartis tätig. Er stiess 2005 als Ingenieur für Wirtschaftsinformatik zum Unternehmen und verfügt über einen Bachelor of Science in Business Administration.

Daniel Fritz ist Supply Chain Domain Architect bei Novartis. Davor war er als technischer Offizier für die US-Armee und als Materials Manager tätig. Er absolvierte die United States Military Academy in West Point (New York) und hält einen Master of Business Administration von der Duke University (North Carolina).

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