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«In der Schweiz werden gute Technologien oft zu früh verkauft»

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«In der Schweiz werden gute Technologien oft zu früh verkauft»

05.09.2017

Ulf Claesson ist ein «serial entrepreneur»: Seit 25 Jahren gründet er Firmen, die sich nachhaltig am Markt bewähren. 2012 stieg er als Aktionär und CEO bei Clinerion ein. Inzwischen hat sich das Unternehmen im Bereich medizinische Daten positioniert und ging kürzlich eine Partnerschaft mit dem britischen Unternehmen Cisiv ein. Für Auftraggeber aus Big Pharma findet die Anwendung von Clinerion Patienten für klinische Studien – und zwar in Echtzeit. Aber die Konkurrenz schläft nicht: Insbesondere in den USA treten mehr und mehr Mitbewerber auf, die mit viel Risikokapital ausgestattet werden. Wie das Basler HealthTech-Unternehmen seine führende Rolle behaupten will, erklärt Claesson im Gespräch mit dem Innovation Report.

Interview: Thomas Brenzikofer

Herr Claesson, was hat Sie dazu bewogen, bei Clinerion einzusteigen?

Ulf Claesson: Clinerion war ursprünglich eine IT-Plattform mit einem komplizierten Namen. Die Gründer hatten die Idee, eine grosse Datenschaltzentrale für die Gesundheitsindustrie aufzubauen. Das war ziemlich ambitiös. Ich schätze, die WHO oder die Bill und Melinda Gates-Stiftung könnten das allenfalls stemmen. Aber eine kleine Firma in Basel? Als IT-Mensch habe ich schnell gesehen, wie gut die technologische Basis war. Unklar war dagegen das Problem, das man damit lösen konnte. Also machten wir uns an die Arbeit und haben uns schrittweise an den Use Case Patientenrekrutierung herangetastet. Heute sind wir als einziges Unternehmen weltweit in der Lage, aus Millionen von Patientendaten in Echtzeit jene Patienten zu identifizieren, die sich für eine bestimmte klinische Studie eignen.

Sie haben also das Unternehmen auf eine ganz bestimmt Nische ausgerichtet?

Ja, eindeutig. Eine Firma im Aufbau muss sich fokussieren und ein reales Problem lösen. Mit unserer Technologie verschafft sich der Kunde einen eindeutigen Vorteil. Um Patientinnen und Patienten zu finden, braucht es normalerweise Monate, manchmal Jahre. Wir verkürzen diese Zeit auf Wochen. Wir sorgen dafür, dass eine Pharmafirma, ein Spital oder ein Auftragsforschungsinstitut schon von Studienbeginn an genau weiss, wo sich die betroffenen Patienten befinden und wie viele dies typischerweise sind. Je nach Zielsetzung kann das Studienprotokoll dann beliebig optimiert werden. Weil wir Schätzungen vermeiden und reale, in diesem Moment existierende qualifizierte Patienten präsentieren, wird das Studiendesign solider, das Risiko wird minimiert. Weiter weiss ein Studiensponsor genau, wo er wie viele seiner «Sites» platzieren muss. Hierfür ist die Echtzeitanzeige von grosser Bedeutung. Aktiviere ich ein Studienprotokoll, werden beteiligte Ärztinnen und Ärzte sofort benachrichtigt und können ihre Patienten aufbieten.

Ist es einfach, die Spitäler davon zu überzeugen, mit Clinerion zusammenzuarbeiten?

Anfangs waren wir ziemlich naiv. Aus der IT-Perspektive würde man die Cloud nutzen. Genau das haben wir versucht und sind damit mehrheitlich auf Ablehnung gestossen. Ausserdem stellten wir fest, dass das Verhältnis zum Datenschutz sowie die Regulatorien von Land zu Land völlig verschieden sind. Diese Faktoren machen eine Cloud-Lösung fast unmöglich. Heute installieren wir in der Infrastruktur der Spitäler eine Hardware-Appliance. So bleiben die Daten da, wo sie gesammelt werden und sind so sicher wie alle anderen Patientendaten. Weiter greifen wir nur auf konsolidierte und aggregierte Metainformationen zu. So gewinnen wir das Vertrauen von Entscheidungsträgern und von denjenigen, die das System einsetzen.

Was genau ist die Motivation der Spitäler, ihre Daten preiszugeben?

Im Grunde teilen wir alle das Ziel, den betroffenen Patienten schnellstmöglich Medikamente zur Verfügung zu stellen. Wir helfen dabei. Unikliniken forschen unter anderem aus eigenem Interesse und können ihre internen Studien dank uns schneller durchführen. Zudem werden Spitäler von Pharmafirmen für jeden Patienten, der an einer Studie teilnimmt, vergütet. Für Mediziner ist es wichtig, sich an interessanten Studien beteiligen zu können. Wir stellen fest, dass Spitäler, sobald sie mit uns zusammenarbeiten, deutlich mehr Studien angeboten bekommen als zuvor.

Zu wie vielen Patienten haben Sie derzeit Zugang?

Wir haben durch die Spitäler Zugang zu 35 Millionen Patienten. Das braucht man auch. Denn die Zahlen schrumpfen sehr schnell, je nach Indikation, nach der man sucht.

Sie sind vor allem in Schwellenländern wie Brasilien oder der Türkei aktiv. Warum?

In Europa ist man, ausser in Grossbritannien, zurückhaltender bei klinischen Studien. Die Türkei will die 50 Millionen Euro, die sie 2014 mit klinischen Studien eingenommen hat, bis 2020 auf 1,5 Milliarden vervielfachen. In Brasilien werden sogar Gesetze geändert, damit Pharmafirmen in Zukunft leichter Studien durchführen können. In klinischen Studien ist es wichtig, dass der Pflegestandard aller teilnehmenden Patientinnen und Patienten auf dem gleichen Niveau ist. Studienteilnehmer erhalten dadurch beispielsweise in Osteuropa eine bessere Pflege als üblich. Das kann für manche Patienten ein Anreiz sein.

Fokussieren Sie bei der Datenakquisition also vor allem auf Emerging Markets?

Nein, nicht nur. Wir sind auch in einigen europäischen Ländern gut positioniert. Aber wir können hier sicher noch zulegen. Daneben wollen wir unsere Präsenz beispielsweise in Indien und in Taiwan vergrössern. Auch Grossbritannien haben wir im Fokus. Dabei wird uns die Zusammenarbeit mit Cisiv helfen. Wir sind kürzlich eine Partnerschaft mit dem britischen Unternehmen eingegangen. Cisivs Plattform ergänzt unser Screening optimal.

Das klingt nach einem Datenwettlauf. Wie weit ist Ihre Hauptkonkurrenz?

Es gibt drei Mitbewerber. Wir sind jedoch die einzigen, die Echtzeitergebnisse bieten können. Unserer Konkurrenz in den USA steht jedoch ein Vielfaches an Kapital zur Verfügung. Bei einem der Konkurrenten belief sich die neuste Investitionsrunde auf 32 Millionen Dollar.

Und Sie können nicht nachziehen?

Es ist in der Tat schwierig für ein ICT-Start-up in der Schweiz, derartige Beträge zu erhalten. Aber wir sind nur bedingt darauf angewiesen. Wir haben ein sehr loyales Aktionariat und sind genügend finanziert, auch wenn wir noch weit davon entfernt sind, profitabel zu sein.

Ein Verkauf steht nicht zur Debatte?

Unsere Vision ist es, Patienten mit Medizin zu versorgen. Falls wir sehen, dass wir dieses Ziel auf einem anderen Weg schneller erreichen, sind wir offen. Aber derzeit steht ein Verkauf nicht zur Debatte. Ich habe schon einige Firmen gegründet. Einige wurden zu früh verkauft, obwohl man sie noch ein, zwei Stufen hätte voranbringen können. Ich bin überzeugt, dass uns das mit Clinerion gelingt.

Sehen Sie in der fehlenden Wachstumsfinanzierung ein Problem für die Schweizer Start-up-Szene?

Eindeutig. Tendenziell werden gute Technologien zu früh verkauft, weil sich kein inländisches Geld für den nächsten substanziellen Meilenstein finden lässt.

Was schlagen Sie vor?

Das Silicon Valley zu imitieren bringt nichts. Auch weil die Kosten dort derzeit untragbar hoch sind. Wir sollten uns vielmehr auf unsere Stärken konzentrieren. An der ETH beispielsweise werden  pro Jahr doppelt so viele Start-ups gegründet wie in Berkeley. Wo die Universitäten gut sind, entsteht ganz von selbst eine Start-up-Community. Die Studierenden, die ich an der ETH erlebe, sind voller Ambitionen und Energie. Festzustellen ist aber auch, dass viele Schweizerinnen und Schweizer die Sicherheit eines Arbeitsplatzes in einem Grosskonzern bevorzugen. Es braucht etwas mehr Mut zum Risiko. Daran müssen wir noch arbeiten.

Wie sehen Sie den Innovationsstandort Basel?

Wir haben hier einen guten Zugang zur Branche, zudem können wir auch aus dem benachbarten Deutschland Arbeitskräfte rekrutieren. Der Standort ist somit auf dem Arbeitsmarkt auch weniger kompetitiv als beispielsweise Zürich. Wir fühlen uns pudelwohl in Basel.

Interview: Thomas Brenzikofer and Annett Altvater​

Über Ulf Claesson
Ulf Claesson studierte Produktionstechnologie an der Chalmers Universität in Göteborg und absolvierte zudem ein Managementstudium an der Universität St. Gallen. Er war bei IBM und Hewlett-Packard tätig, gründete Spin-offs für verschiedene Unternehmen und entwickelte eigene Start-ups. Sein Wissen als «serial entrepreneur» vermittelt er Studierenden an der ETH in seiner Vorlesung zu «Technology Entrepreneurship». Er ist im Verwaltungsrat verschiedener Unternehmen tätig, Foundation Board Director der AO Foundation und seit 2012 CEO von Clinerion.

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